Irina Vadimovna Livanova und Vadim Grigor´evič Zotov gehören zu jener Generation von Miniaturmalern, die in Palech die Traditionen der Meister der älteren Generation erneuert hat. Sie stehen auch am Anfang des Wiederauflebens des Ikonenmalgewerbes in Palech zu Beginn der 1990er Jahre: sie waren bestrebt, sich die künstlerischen Mittel und Fertigkeiten der Meister der Ikonenmalerei anzueignen, und studierten die Meisterwerke der Ikonenmalerei und die besten Arbeiten der Begründer der Palecher Miniatur. Viele Werke wurden von ihnen gemeinsam ausgeführt: „Die Jahreszeiten", „Der Jahrmarkt in Palech", „An der Quelle". Die Künstler ergänzen einander organisch. Die Platte „An der Quelle", wie auch die übrigen Arbeiten von Livanova und Zotov spiegeln die jahrhundertalten Prinzipien des russischen Dorfes – jene gesunde, positive Basis, die in der ländlichen Kultur angelegt war.
An der Quelle. Irina Vadimirova Livanova und Vadim Grigor'evič Zotov Platte, 1992, 40,0 x 32,2 cm
In einer einzigen kompositorischen Fläche der Miniatur sind zahlreiche Einzelbilder angeordnet, die von der täglichen Arbeit der Bauern erzählen. Die Künstler idealisieren die patriarchalische Lebensform des russischen Dorfes. Von den reichen Gaben der Erde sprechen die vollen Pilz- und Beerenkörbe. Das zentrale Bild dieses Werkes stellt eine Bäuerin an der Quelle dar. Ihre geschmeidige Gestalt ist massstabsgetreu vergrössert, die Bewegungen sind ruhig, verlangsamt, was der Miniatur einen erhabenen epischen Ton verleiht. Eine lyrische Note in den musikalischen Bau des Werkes bringt die weiche, harmonische Farbgebung. Während der Ort der Handlung von den Künstlern immerhin gekennzeichnet ist (im Hintergrund sind deutlich die Umrisse der Palecher Kirche zu erkennen), so ist es unmöglich, die Zeit der Handlung zu bestimmen. Die Einfachheit und Natürlichkeit der in diesem Werk verkörperten Welt der russischen Landfrau kennt keine zeitlichen Grenzen. In der Anfangszeit der Palecher Lackminiatur besangen männliche Künstler in ihren Werken die Schönheit der russischen Frauen – der Mütter, der Gründerinnen, der Bewahrerinnen der Familie und ihre poetische Natur. Heutzutage kann man diese wundervolle Welt mit den Augen der zeitgenössischen Künstlerinnen erblicken. In ihren Werken bemühen sie sich, die Bedeutung der Jahreszeiten im Leben der Frau aufzuzeigen. Einen breiten Raum im Schaffen von Livanova nimmt die Abwandlung ein und derselben Themen ein – „Die Kohlgärtnerinnen", „In den Beeren", „Der Schneeballstrauch", „Die Näherin".
Die Näherin. Irina Vadimirova Livanova Puderdose, 1992, 6,1 x 1,5 cm
Nach dem Peter-und-Paul-Fest endeten die ländlichen Belustigungen und begannen die schwersten Arbeiten: Heumahd und Ernte. Ausser der Feldarbeit gingen die Bäuerinnen in den Wald Beeren und Pilze suchen. Mit den „Kapustki", dem Kohlschneidetag, wurde die Saison der Herbstabende der Jugend eröffnet. Der Zeitraum der Durchführung der „Kapustki" war durch das Ende der Erntezeit und den Beginn der Hochzeitssaison bestimmt. Die eingeladenen Mädchen, die „Kohlgärtnerinnen", kamen mit ihren Hackmessern. Die jungen Burschen erschienen ungerufen und unterhielten die Mädchen mit Scherzen und Harmonikaspiel. In der kalten Jahreszeit befassten sich die Bäuerinnen mit Handarbeiten: Spinnen, Weben, Spitzenklöppeln. In Palech, wie auch überall in Russland, begleitet das Volk mit Gesang alle feierlichen Ereignisse in seinem Leben. Jede Festlichkeit und jedes Leid. Das Sangeswesen der Dorfkultur war durch Zartheit und Tiefe der Gefühle bestimmt. Die folkloristischen Liedthemen waren bestimmend im Schaffen von T.M. Chodova, A.N. Ivanova, A.I. Kamanina, L.F. Novikova, N.P. Lopatina. Eine Vorstellung von der echten Miniatur als Kunst der kleinen Form gibt das Schaffen von Ekaterina Fedorovna Ščanicyna, Volkskünstlerin der Russischen Föderation. Auserlesene Kompositionen der Künstlerin schmücken kleine Schatullen, Schmuckkästchen und winzige Schächtelchen.
Nastja. Ekaterina Fedorovna Ščanicyna Schatulle, 1993-1994, 9,5 x 12,0 x 3,0 cm
Die Miniatur „Nastja" ist auf ein Thema des Volkslieds entstanden, dessen Text auf dem oberen Teil der Schatulle steht: „Herausgeputzt ging Nastja umher, / Drei Röckchen trug sie, / Oft ging Wasser sie holen, / Schaute in die Fensterlein, / Einen Burschen wählte sie sich aus". Die zentrale Figur Nastjas dominiert die Komposition, die aus mehreren Szenen besteht. Ihre Handlungen sind nicht isoliert, sondern verlaufen einheitlich in Raum und Zeit. Die Mädchen am Brunnen schauen finster und voll Neid Nastja an, ihre Gesichter sind sehr ausdrucksvoll. Auch die jungen Burschen sind von ihren Arbeiten abgelenkt, wobei sie vieldeutig der vorbeischwebenden Schönheit mit ihrem Tragejoch nachblicken. In der Miniatur „Winter" von Antonina Nikolaevna Ivanova ist eine winterliche Dämmerung dargestellt: aus den Schornsteinen weht eine rosafarbene Rauchwolke, hinter einem knorrigen Baum geht die rote Sonne unter. Auf dem schwarzen Lackgrund bilden die fliessenden Abhänge der Anhöhen und die Bäume mit ihren von einem Schneeschleier eingehüllten Zweigen ein harmonisches rhythmisches Muster. Die stilisierte Dorflandschaft mit ihren Holzhäusern und der Kirche, der kleinen Brücke über dem Flüsschen gibt die Schönheit und den Charme des heimatlichen Palech wieder.