Es leben die Farben!

Eine dokumentarische Erzählung
Von Marija Michailovna Bokareva
Die Erzählung erschien unter dem Titel Es leben die Farben (Da zdravstvujut kraski) am 3. November 2016 in der Palecher Wochenzeitung Prizyv.

Mit ihrem Werk vertrat Marija Bokareva 2015 den Rayon Palech beim Ersten Allrussischen Literaturwettbewerb Helden des grossen Sieges in der Kategorie „Prosa“. Die Autorin wurde Gewinnerin des Wettbewerbs.

Es leben die Farben ist eine dokumentarische Erzählung über den im Zweiten Weltkrieg umgekommenen jungen Palecher Lackminiaturmaler Viktor Zinovʼev und seinen Bruder Parmen.
CV Marija Bokareva

Die 1986 in eine Palecher Künstlerfamilie geborene Marija Bokareva absolvierte die Palecher Kunstschule Maksim Gorʼkij mit einer Zusatzausbildung in Ikonenmalerei.

Ihre Werke wurden auf Ausstellungen in Palech, Moskau und Nižnij Novgorod gezeigt. Sie beteiligte sich an der Ausmalung der Verkündigungskathedrale in Murom.

Seit ihrer Kindheit beschäftigt sie sich mit Volkskunst und lokalem Brauchtum. Sie nimmt regelmässig an lokalgeschichtlichen, wissenschaftlichen Konferenzen teil.

Marija Bokareva hat an literarischen, poetischen und musikalischen Wettbewerben mehrere Diplome erhalten, darunter den Preis des Gouverneurs der Oblastʼ Ivanovo und den Preis des Präsidenten der Russischen Föderation.


Übersetzung aus dem Russischen: Elena Buljukina und Dr. Felix Waechter (FW).

Die Fotografien hat uns Marija Bokareva zur Verfügung gestellt.
Die drei Fotografien mit Arbeiten von Parmen Zinovʼev hat uns das Staatliche Museum für Palecher Kunst (GMPI, Olʼga Šemarova) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Es leben die Farben
Parmen und Baba Panja
Das Haus der Urgrossmutter Panja bestand aus zwei Hälften – sie bewohnte die eine, in der anderen lebte ihr Bruder Parmen. Die beiden Hälften des Hauses waren identisch: es gab eine Küche, einen Vorraum mit einem Ofen und durch eine doppelte Flügeltüre gelangte man ins Zimmer. Das Haus war umgeben von einem grossen Garten mit alten Apfelbäumen, Bienenstöcken und zahlreichen Gemüsebeeten. Onkel Parmen beschäftigte sich in seinen alten Tagen mit Imkerei. Der Garten war seine Domäne und die Apfelbäume pflegte er seine Töchter zu nennen.

Urgrossmutter Pania war früher eine Lehrerin mit festen Grundsätzen, treu ihren Prinzipien, bescheiden und gerecht. Sie verlor ihren Mann an der Front und widmete ihr ganzes Leben der Schule und den zwei Töchtern mit ihren Enkeln. Onkel Parmens Vergangenheit in hingegen war in Dunkelheit gehüllt, in etwas Geheimnisvolles und Mysteriöses. Keine Frage, sein vergangenes Leben barg ein Geheimnis, das zeigte sich in seinem Auftreten und Verhalten – er war nervös, unausgeglichen und einfach übelgelaunt. Er hatte Anfälle von unverständlicher Boshaftigkeit gegenüber allen Menschen um ihn herum. An solchen Tagen verzog er sich in seine Hälfte, sprach mit niemandem und wollte niemanden sehen. Er hatte keinen gutmütigen Charakter.
Parmen, Panja und Viktor Zinovev (v.l.n.r.).
Damals, in meiner Kindheit wollte ich die Anfälle von Traurigkeit verstehen, die dieser äusserlich seelengute, glatzköpfige, leicht bucklige, alte Mann hatte, der in Momenten guter Laune seinen Bekannten immer: „ich grüsse sie!“ zurief. Aber solche Momente kamen immer seltener vor und im Alter überhaupt nicht mehr.

Im hohen Alter, während einer Krankheit, schrie er, man solle ihn herauslassen, die Türen öffnen und er beschimpfte die Menschen, die sich um ihn kümmerten. Schliesslich erfuhr ich von Verwandten, was für ein schweres Schicksal Parmen Nikolajevič Zinovʼev zu tragen hatte.

Nach dem Abitur wurde er 1939 zum Militär eingezogen und absolvierte die Schule für Feldweibel. Zu Beginn des Krieges wurde er beim 73. Regiment als Gruppenführer eingeteilt. Mit der Truppe kam er im 218. Grenzregiment an vorderster Front bis nach Berlin. Er beendete den Krieg im Fernen Osten, wurde 1947 demobilisiert und kehrte mit militärischen Auszeichnungen in sein Heimatdorf Djagilevo zurück.

Drei tragische Ereignisse prägten sein Leben.

1942 kam sein geliebter älterer Bruder Victor ums Leben – ein erster unersetzlicher Verlust.
Viktor Zinovev.
1945 schrieb er von der Front an seine Angehörigen: «Ich werde nicht nur mit dem Sieg, sondern auch mit einer Braut nach Hause zurückkehren." Aber das geliebte Mädchen starb nach Kriegsende in Berlin durch eine verirrte Kugel. Dieses Ereignis versetzte ihn in grosse Trauer, die er sein ganzes Leben lang mit sich trug. Er blieb ledig.

1957, während der Ära Chruščevs, lebten die Kolchosbauern unter schwierigen Bedingungen. Flächendeckend wurde Mais angebaut, die Bauern waren ohne Ausweis, konnten also ihre Kolchose nicht verlassen. Zudem wurden sie gezwungen, Anleihen zu zeichnen. Parmen Nikolaevič litt unter dieser Situation, er sorgte sich um das Dorf und betrachtete sich als Fürsprecher der Bauernschaft. Als er erfuhr, dass die von seinen Dorfbewohnern gekauften Staatsanleihen nicht wie versprochen in den kommenden Jahren zurückgezahlt werden würden, schickte er Briefe an die Regierung in Moskau, und protestierte gegen die Politik der Partei auf dem Land. Dabei zitierte er die Worte seines geliebten Radiščev: "Gierige Tiere, unersättliche Blutegel, was sie dem Bauern überlassen, was sie ihm nicht wegnehmen können – die Luft, nur die Luft ...".

Mit Hilfe der Nummer dieser Anleihe fanden sie ihn und führten ihn von seinem Geburtshaus weg. Er wurde arrestiert, "du sollst dein Schicksal nicht herausfordern!", sagte man ihm. Alle waren von seinem Verhalten überrascht, denn er war immer sehr vorsichtig und ängstlich. Am 31. Mai 1957 stand er vor Gericht. Er wurde mit einem politischen Artikel verurteilt und verbrachte mehrere Jahre in der Verbannung in Udmurtien. So wurde klar, welches Geheimnis all die Jahre seines Lebens in Dunkelheit hüllte.

1961 kehrte er nach Palech zurück, wo in einem abgelegenen Winkel sein Haus auf ihn wartete, das er vor sieben Jahren mit seiner verwitweten Schwester gebaut hatte. Dort verbrachte er seine Zeit allein, arbeitete als Künstler in Werkstätten, malte Trojkas, Jagdszenen und Schlachten.
Die Welt des alten Hauses
Friede lag über diesem in einer ruhigen Sackgasse gelegenen Haus. An diesem Ort war die Zeit wegen der vielen alten Fotografien, die er aufbewahrte, stehengeblieben. Der Ort löste in mir einen Traum, eine Vision, aus. Ich kann mein Gefühl nicht mehr genau beschreiben – mir war, als ob ich in einem Kino eine Begegnung mit der Vergangenheit erlebte. Es waren Fragmente des vergangenen Lebens vor dem Krieg, in Verbindung mit den Kindern des Künstlers Zinovʼev, des Ururgrossvaters aus dem Dorf Djagilevo.
Nikolaj Michailovič Zinov'ev mit seiner Frau und seinem erstgeborenen Kind, der Tochter Pavlina.
Er hatte fünf Kinder: Pavlina (Baba Panja), Kapitolina (Kapa), Viktor, Parmen und Vera. Ausser an Viktor erinnere ich mich an alle aus meiner Kindheit. Ich war noch sehr jung, als ich sie ein erstes Mal kennenlernte. Im Sommer war ich damit beschäftigt, Ameisen aus einem Wasserfass zu befreien, da hörte ich die Stimme von Baba Panja hinter mir: "Nun, du bist für uns wie Vitja Zinovʼev, hilfst allen, fühlst Mitleid mit allen". Das war alles, was ich zu jener Zeit über Viktor wusste – er muss sehr, sehr gutherzig gewesen sein und wurde von allen geliebt. Bereits als Schülerin erfuhr ich mehr über ihn.
Sitzend v.l.n.r: Die Taufpatin, die Frau von Nikolaj Michailovič mit der jüngsten Tochter Vera, Nikolaj Michailovič mit Sohn Parmen. Rechts unten sitzt Viktor. Stehend v.l.n.r.: Pavlina, Kapitolina und eine unbekannte Person.
Einmal im Mai, nach der Feier des Siegestages, war Onkel Parmen guter Laune und erlaubte mir, in seiner Haushälfte zu verweilen. Damals stand dort ein riesiger, antiker Schrank, gefüllt mit Büchern, Alben und Zeitschriften. Auf dem Schreibtisch lagen kreuz und quer verstreut Pinsel und Klingen, Bleistifte, Zeitungsausschnitte sowie einige Schatullen unterschiedlicher Grösse – das Chaos eines Junggesellen. Das war deshalb interessant, weil in der anderen Haushälfte, dem Charakter seiner Schwester entsprechend, Sauberkeit und Sorgfalt herrschten. Ich sass da ​​und dachte, was ist besser: eine perfekte Ordnung oder eine künstlerische Unordnung?

Die strahlende Maisonne war hinter dem Haus verschwunden, das Zimmer war düster, es roch nach alten Büchern und Staub. Ich sass auf einem abgewetzten Sofa und betrachtete mit Neugier die braunen, goldgeprägten Buchrücken, einen Papierstapel, verstreut herumliegende Zeichnungen und Zeitungsausschnitte. Der Onkel, über den Tisch gebeugt, zeichnete etwas.

Als ich mich im Raum, den ich so selten besuchte, umsah, bemerkte ich auf einmal eine Zeichnung an der Wand, dann eine weitere, und noch eine: Eine ganze Reihe von Zeichnungen alter Kirchen in Novgorod.
Die Erlöserkirche in Velikij Novgorod.
Zeichnung, Viktor Zinovʼev, 1937.
"Wie wunderbar! Von wem sind diese schönen Zeichnungen?", fragte ich Onkel Parmen.

Lange schwieg er.

"Diese Zeichnungen – eine Erinnerung an meinen Bruder Viktor. Er besuchte Novgorod als Student im Sommer 1937 und brachte von dort viele Skizzen mit", antwortete Parmen Nikolaevič, "er war ein vielversprechender Künstler, ein bemerkenswerter Mensch".

Er griff in eine Schublade und zog ein kleines Album hervor. Auf der ersten Seite stand in schönen Worten geschrieben: Gewidmet dem lieben Sohn und Bruder Viktor Nikolaevič Zinovʼev, gefallen in den Kämpfen um das Vaterland. 1918 – 1942. Ich sah die zitternden Hände des alten Mannes, und mir wurde klar, wie sehr ihn der Inhalt dieses ockerbraunen Albums berührte.
Das seinem Bruder Viktor gewidmete Album von Parmen Zinovʼev.
«Besser wäre gewesen, ich wäre an seiner Stelle gestorben», meinte der Onkel mit unverhohlener Bitterkeit und blätterte raschelnd die gemusterten Pergamentblätter zwischen den Kartonseiten um.

Ich staunte, mit welcher Liebe das kurze Leben Viktors in diesem Album zur Erinnerung zusammengetragen war. Das Album enthielt viele Fotografien von ihm und seinen Klassenkameraden an der Kunstschule, von Landschaften des Dorfes Djagilevo – der Heimat der Zinovʼevs, von Wanderungen im Wald, Jagd- und Angelausflügen am Fluss, sowie Fotos von Viktors Bildern mit Sujets historischer Schlachten.

Und plötzlich fing Parmen Nikolaevič an zu sprechen, erinnerte sich an seine Jugend, an seine Familie. Sein stets blasses Gesicht leuchtete auf, seine Augen wurden lebendig, nahmen Farbe an. Beim Betrachten einer Fotografie des jungen Kriegers weinte er plötzlich, als ob er ihn beerdigen würde:

"Ach Viktor, Viktor, du warst bei uns der Schönste, der Fröhlichste und der Begabteste. Und wie du uns bei allen bäuerlichen Arbeiten zur Hand gingst.

Du warst zuverlässig, ein freundlicher, liebenswerter Mensch – aber du lebtest nur vierundzwanzig Jahre…

Und wie du von der Kunst geträumt hast, mit welcher Beharrlichkeit du dir die Fertigkeiten eines Künstlers angeeignet hast, du warst der Einzige der Klasse, der die Ausbildung mit Auszeichnung abschloss. Ich erinnere mich an das Thema deiner Diplomarbeit: Die Tage von Voločaevsk. In der Armee hast du Kurse für Kommandeure absolviert. Wie sehr wir dich alle geliebt haben…"

Er und Paša Baženov – ja, das waren zwei Freunde. Beide blieben vom Krieg nicht verschont – Parmen beendete seine Gedanken wie eine Ansprache an mich, wurde plötzlich blass und ging, traurig den Kopf schüttelnd, ins Nebenzimmer.

Ich blieb allein in der Stille... Ach, diese alten Fotos! Wie ich sie liebe! Ausgetrocknete, dürre Zeugnisse, alle schwarz-weiss, aber sie lassen einen den Atem des Lebens, Luft und Farben spüren.

Lange, lange betrachtete ich das Album mit den Fotos von Viktor, einem jungen Künstler, dessen Leben so früh und tragisch enden sollte und unverhofft spürte ich ihn so intensiv und nah wie Onkel Parmen.
Viktor Zinovʼev mit seiner Diplomarbeit Die Tage von Voločаеvsk.
Ein Bild fiel mir besonders auf. Ein sonniger Maitag. Zu sehen Viktor, hell gekleidet, lächelnd steht er da mit einem Fahrrad und einem Fliederstrauss. Letzte Vorkriegsjahre eines friedlichen Lebens, erfüllt mit landwirtschaftlichen Arbeiten, mit dem Studium, mit Zukunftsträumen und Ausflügen an das Ufer des malerischen Flüsschens Ljulech.
Vorkriegsfrühling - Viktor Zinovʼev.
Viktors Zeichnungen
Dann brachte mir Onkel Parmen aus dem Zimmer ein weiteres Album – mit Zeichnungen.
Album Sommerskizzen.
Viktor Zinovʼev, 1935.
"Das ist ein Album aus dem Jahr 1935. Sommerskizzen meines Bruders", sagt Parmen Nikolaevič. "Sie lassen das Aussehen des alten Dorfes Djagilevo und seiner Umgebung wieder aufleben. Dazu auch Bleistiftporträts von Verwandten und Freunden. Wie sorgfältig sind sie ausgeführt! Man sieht, wie seriös und anspruchsvoll er sein Studium betrieb.
Die kleine Kapelle der Ikone der Gottesmutter von Vladimir im Dörfchen Djagilevo.
Zeichnung, Viktor Zinovʼev, 1935.
Zu sehen sind die mit Liebe gemalten Portraits der Grossmutter Praskovʼja Ivanovna – geborene Čirukina, des Grossvaters Michail Ivanovič – er malte Ikonen im Miniaturstil, sowie der Taufpatin Marija Michajlovna – sie zog alle Zinovʼev-Kinder gross."
Portraits des Grossvaters Michail Ivanovič und der Grossmutter Praskovʼja Ivanovna – geborene Čirukina.
Zeichnungen, Viktor Zinovʼev, 1935.
"Die Mutter und die Patin waren zutiefst religiös", fuhr mein Onkel fort, "sie vermittelten uns die Liebe zur Arbeit, erzogen uns zu Mitgefühl und Respekt gegenüber Traditionen. Viktor liebte es, Kirchenarchitekturen und Landschaften seines Heimatdorfes zu zeichnen. Schau mal diese Zeichnung, das ist die alte Djagilevo Kapelle, benannt nach der Ikone der Gottesmutter von Vladimir. Viktor hat sie oft gezeichnet, sie stand mitten im Dorf, nicht weit entfernt von unserem Haus. Und auf der nächsten Seite, das ist unser Geburtshaus, die geliebte kleine Birke unter dem Fenster. Wie oft feierten wir hier glückliche Ereignisse, erlebten Familientreffen und Abschiede."
Und plötzlich begann mein Gesprächspartner verlegen irgendein Gedicht zu rezitieren:

"Die Birke zu Hause,
Leicht rascheln die Blätter.
Hier mag man alles, ist alles vertraut,
Die Seele kommt zur Ruhe.
Das Hausmuseum Nikolaj Michajlovič Zinovʼev in Palech.
Foto: Staatliches Museum für Palecher Kunst.
Nun, du weisst", fuhr er nachdenklich fort, "heute befindet sich in unserem Haus ein Museum zum Andenken an meinen Vater Nikolaj Michajlovič Zinovʼev, aber früher war das Haus ein Wohnhaus  (Nikolaj Michajlovič Zinovʼev, 1888 – 1979, berühmter Palecher Künstler, Anm. FW). Kinder wuchsen dort auf, gingen zur Schule, zur Arbeit, kehrten aber immer wieder zu ihrer Wiege zurück. Hierher kam im Mai 1942 auch der letzte Brief unseres Viktors von der Front, und bald darauf die Nachricht, dass er vermisst werde. Wir trauerten wie alle. Ein unersetzlicher Verlust", sagte er und Tränen flossen aus seinen Augen. "Aufgrund der Adresse", fuhr Parmen Nikolaevič fort, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, "diente Viktor als Leutnant im Stab General Žukovs an der Westfront. Ja, und in Briefen schrieb er über die Ukraine. Damals im Frühling des Jahres 1942 begann die Rževsko-Vjazemskaja Offensive, an der die Truppen der Generäle Konev, Žukov, Kuročkin und Čerevičenko die Regionen Moskau und Tula von den Invasoren der Heeresgruppe Mitte befreiten. Ja, damals starb er. Die Faschisten verloren 330 Tausend Soldaten, wie der Kalender denkwürdiger Daten der russischen Kriegsgeschichte berichtet.

Mich interessiert alles, was mit Schlachten zu tun hat", schloss er seine Gedanken, und überreichte mir mehrere zerlesene Papierblätter.
Briefe aus dem Krieg
Ich halte in den Händen Briefe von der Front. Wertvolle Dokumente aus längst vergangener Zeit – vergilbt, zerfleddert, gelesen – wieder und wieder gelesene Blätter, geschrieben von der Hand des Leutnants Zinovʼev. Erstaunlich warmherzige Briefe. So erfährt er vom Tod seines geliebten Freundes – dem mit seiner Schwester Kapitolina verheirateten Pavel Dmitrievič Baženov, einem wunderbaren Palecher Künstler, umgekommen auf dem Weg an die Front – zur Verteidigung Leningrads. Ihr Zug wurde von den Deutschen bombardiert. Viktor trauert sehr um ihn, tröstet die Schwester, und ist dafür besorgt, dass die Zeichnungen dieses hervorragenden Künstlers nicht verloren gehen.

…Pavel Dmitrievič ist nicht mehr, ich bin zutiefst erschüttert und kann bis heute nicht glauben, dass er nicht mehr ist, dass er auf eine so unnötige Weise gestorben ist. Er war ein talentierter Mensch mit der Seele und dem Herzen eines Künstlers, der seine Arbeit liebte und sich ihr mit Engagement widmete.

Ja, da kannst du nichts machen, man muss sich damit abfinden. Es ist Krieg, ein grausamer und blutiger Krieg für eine bessere Zukunft unseres Volkes und der ganzen Menschheit. Wir werden den Feind besiegen.

Kapa tut mir sehr leid, sie durchlebt jetzt viel, leidet seelisch, und natürlich, ihre Augen schmerzen nicht grundlos, aber sie darf nicht völlig verzweifeln, sie muss weiterleben, ihre Pflichten erfüllen. Ihr Schicksal ist das Schicksal vieler, deshalb muss sie weiterleben, so wie sie zuvor gelebt hat.
Die Zeit wird den Schmerz lindern und alles wird besser werden.

Aber man muss da durchgehen, dann wird alles wie früher sein. Und die Hauptsache: nicht verzweifeln.

Ich lebe wie früher, ohne grosse Veränderungen, eigentlich fühle ich mich wohl. Es gibt viel zu tun, so dass wir uns daran gewöhnt haben, den ganzen Tag ohne Pausen zu arbeiten. Aber das geht in Ordnung, es ist zu unserem Besten. Gegenwärtig befinden wir uns in einem Gebiet, wo die Deutschen waren. Sie haben Ruinen hinterlassen. Viele ihrer Fahrzeuge haben sie stehen lassen. Ein trauriges Bild eigentlich, aber alles wird wieder werden.

Viktors letzter Brief trägt das Datum vom 14. Mai 1942. Seine Absenderadresse: Rote Armee im Einsatz. Militärische Feldpost. 1532 Armeehauptquartier, 8. Division.
Der letzte Brief Viktor Zinovʼevs von der Front.
Ja, der Krieg hat in jeder Familie eine bittere Erinnerung zurückgelassen. Das aufblühende Leben – das so viel Anlass zu Hoffnung gab – war nicht mehr. Neulich sah ich mir Viktors Zeichnungen der Novgoroder Kirchen an und auch seine Zeichnung mit der kleinen Holzkapelle des Dorfes Djagilevo. Dabei dachte ich: "Er hat seine Heimat verteidigt, deren Schönheit, die er als Künstler bewunderte. Er liebte die Stille des Dörfchens im Dickicht von Engelwurz und Traubenkirsche, seine Heimat, Palech, die russischen Kirchen zwischen Feldern und Wäldchen so sehr, dass er sein Leben für ihren Frieden und ihre Ruhe nicht schonte. Seine Liebe für das Vaterland brachte wie für abertausende andere Soldaten den strahlenden Nationalfeiertag näher – den Tag des Sieges".
Ich verabschiede mich von meinem Onkel, den ich jetzt mit ganz anderen Augen sehe: "Wie gut und warmherzig ist Onkel Parmen, wie grenzenlos liebt er seinen Bruder, trauert um ihn, ja bedauert sogar, dass nicht er selbst an seiner Stelle gestorben ist".
Ein Traum
Nachts konnte ich lange nicht einschlafen. Sobald ich die Augen schloss, begannen die Fotografien zu leben, bewegten sich wie in einem Stummfilm, dann hörte ich Geräusche und Stimmen. Langsam fiel ich in einen Schlaf. Grosse Flügel trugen mich über die Erde. Plötzlich erblickte ich das vertraute Ufer der Ljulech, ein Dickicht von Traubenkirschen, das Flüsschen Demidovka und die darüber führende Holzbrücke. Ein Duft von Flieder und die Frische des Flüsschens lagen in der Luft…

…Aber, wer ist denn das? Auf einem umgestürzten Baum sitzen drei junge Männer. Sie machen Skizzen, zeichnen, fischen. Und plötzlich erkenne ich – Viktor (auch Vitenka, Anm. FW), Parmen, Pavel (Pavel Dmitrievič Baženov auch Paša, Anm. FW) alle sind jung. Und dort in der Ferne zeigt sich eine weitere vertraute Figur. Ja – Kapa (Kapitolina auch Kapočka oder Kap, Anm. FW). Auf ihrem angewinkelten Arm trägt sie ein Körbchen. Ich höre Stimmen. Und, als ob mir ein Film aus der Vorkriegszeit vorgeführt würde, höre ich was sie sprechen, diskutieren, phantasieren:
Junge Leute! Sie arbeiten alle. Schaut, die Patin schickte Erfrischungen – ein Krug mit Milch und Piroggen – Kapa breitet ein Leinentuch aus und platziert darauf die Leckereien. "Paša, zeichnest du Viktor? Wie ähnlich! Sehr schön!" meinte sie bewundernd.

"Nun, Paša wird euch alle in die Tasche stecken", bemerkte Viktor, "er ist bereits jetzt ein ausgezeichneter Meister und wird bald ein berühmter Künstler sein. Hütchen wird er dir kaufen, Kapočka."

"Ach Leute, alles wäre gut, wenn es nur keinen Krieg gäbe", meinte Pavel nachdenklich, "die Welt – wie unheimlich sie ist!"

"Dich Pavel, wird man als den begabtesten jungen Künstler der Reserve zuteilen", tröstete ihn Parmen. "Für uns bist du ein Talent und Talente werden in unserem Land beschützt".

"Nun, Reserve oder nicht Reserve, aber die Patin wird ihm in den Uniformmantel eine Ikone oder das Gebet Lebende Hilfe einnähen – das wird ihn auf all seinen Wegen beschützen, er wird von Feinden und Kugeln unversehrt bleiben", beruhigte Kapa.

"Was denkst du, Kapa? Es war unser Vater, der im Jahr 1916 eine Ikone rettete, aber heute", befürchtet Parmen, "bist du ein Feind des Volkes, wenn sie eine Ikone entdecken, und wirst vor Gericht stehen."

"Oh, kommt schon Leute, bei euch dreht sich alles um das Schreckliche. Schaut – welch ein Wunder in der Nähe!", träumerisch verschränkt Kapa die Hände hinter ihrem Kopf und rezitiert:

Seit tausenden von Jahren erwartet uns der Wald, er ist auf das Treffen vorbereitet. Schau nach oben, umschliesse den Horizont mit den Augen, beuge dich zum Gras – Künstler, du kannst nichts verpassen. Ausuferndes Himmelblau, lockere Wolken. Die Wälder atmen, bald heben sich die Baumkronen klar vom Horizont ab, bald verschwinden sie in einem diffusen Dunst. Die Birken wirken von der Sonne geschnitzt. Die Stämme der Riesenkiefern sind wunderschön aus rotem Granit gehauen. In den Tümpeln, an feuchter Kühle, vibrieren rosafarbene und hellblaue Vergissmeinnicht. Menschenscheu verstecken sich die wachsbleichen Blütenkelche der Maiglöckchen. Die vom Wind geschaukelte violette Glockenblume stösst an die purpurne Lichtnelke. Zottelige Kornblumen spielen zwischen Ähren Verstecken. Und der Löwenzahn versteht auf einmal, wie gross die Erde ist, und verliert sich in den Weiten der Felder. Ich sage: Es Leben die Farben!

"Kapa, Kapa! Schwesterchen, du hättest mit uns zu den Künstlern gehen sollen, aber du hast dich entschieden, Lehrerin zu werden. Was für ein Bild hast du hier beschrieben!", rief Viktor.

"Vitenka, das stammt nicht von mir, sondern von Efim Fedorovič Vichrev. Erinnerst du dich, er hat Papa sein Buch geschenkt. Wie er schreibt! Ich kann mich nicht loslösen – lese und lese, und es scheint, dass ich beginne, Palech wirklich zu lieben – tief und leidenschaftlich. Denn er ist Dichter, ein Dichter, und seine Verse sind wunderbar!", begeisterte sich Kapa, "Ich möchte alles lesen und meinen Schülern auswendig vortragen, möchte unterrichten so wie eure Lehrerin – Lidija Nikolaevna Guseva."

"Nun Kapa, jetzt hast du aber übertrieben!", Parmen unterbrach sie, "Lidija Nikolaevna ist in ihrer Heimat Volokobino mittlerweile in Ungnade gefallen, sie lebt nicht in ihrem Haus aus Stein, sondern in einer kleinen Hütte mit drei Fenstern, die eher wie ein Badehaus ausschaut. Weisst du denn nicht, wie unsere Komsomolzen sie entlarvt haben? An der Versammlung stellen sie ihr plötzlich eine Frage, keine gewöhnliche, sondern eine Fangfrage: Lidija Nikolaevna, was ist Glockengeläut?"

"Früher diente sie in der Kirche", fuhr er fort, "sie war Kantorin, spielte Harmonium und ihr Gehör war ausgezeichnet. Freimütig sagte sie: Das Läuten der Glocken – das ist Musik. Die Glocken sind zerstört, und sie – Musik."

"Gegen sie wurde ein Verfahren eingeleitet und, obwohl der Staatsanwalt selbst von einer fragwürdigen Geschichte sprach, verlor sie ihre Arbeit an der technischen Fachschule und wurde an den Ljulech, stromabwärts in das Dorf Volokobino verbannt. Aber man sagt, dass unsere Studenten sie heimlich besuchten. Aber wie sollte man eine solche Lehrerin nicht besuchen! Wie gut sie die russische Literatur kannte! Sie engagierte sich für die Seele eines jeden Schülers, förderte den Sinn für künstlerische Schönheit. Vom Treffen erzählen die Schüler bloss: Ihr glaubt nicht an Gott, verletzt bloss keine religiösen Gefühle", so schloss der Bruder seine Rede.

"Ich denke, sie litt nicht für ihre Worte, sondern weil der Ehemann ihrer Tante – der Priester Johann Roždestvenskij – im Jahr 1922 erschossen wurde. Damals gab es in Šuja Erschiessungen und auch er gehörte zu den Opfern, und das fiel jetzt auf sie zurück", erinnerte sich Viktor auf einmal.
"Ja Leute, du weisst nie – manchmal hast du Pech, manchmal hast du Glück. Ich habe über sie nur Gutes gehört", meinte Kapa traurig. "Sie habe, so erzählt man sich, die Philologische Fakultät mit einer Goldmedaille abgeschlossen. Aber ihr Vater war auch ein Priester. Sie hätte alles verheimlichen müssen."

"Ja, du kannst nicht alles verbergen", antwortete Pavel, "es war ihr Schicksal. Man sagt, sie hilft kinderreichen Familien mit ihrem dürftigen Einkommen aus dem Gemüsegarten und von den Ziegen."

"Eine wahre Christin!", fasste Kapa zusammen.

"Woher weisst du was eine Christin ist?", fragte Pavel überrascht, "los Kapočka, erzähle!"
"Nun, unsere Patin betet die ganze Zeit", begann Kapa. "Und die Grossmutter Praskovʼja erzählte mir einmal eine himmlische Vision, die sie hatte: Die Ikonenmaler würden sich ihrem Sohn – unserem Vater also – annehmen, und aus ihm würde ein grosser Künstler werden. Nein, wirklich, Parmen, du kuckst mit so runden Augen – meinte Kapa verwundert – ich lüge nicht, ich habe das wirklich selbst gehört."

"Kapa, Kapa, leise. Was redest du da!", flüsterte Parmen erschrocken. "Man weiss nie, was sich die Grossmutter alles ausdenkt. Sag nicht irgendwas daher, sonst gehen wir alle stromabwärts."
"Ich bin schon still. Ich habʼs euch einfach gesagt", antwortete die Schwester. Alle waren in Gedanken versunken.

"Aber jetzt malen wir nicht mehr so wie die Meister des Artels", merkte Viktor an, "nun wird es Diplome geben – Leinwände. Ich frage mich immer, warum?"

"Ich habe alle Arbeiten von Ivan Michajlovič Bakanov kopiert", sagte Pavel, "an seinem Stil werde ich festhalten".

"Ich habe deine Alben gesehen", erwiderte Viktor, "zeichnen bedeutet für dich atmen".
"Leute, es ist Zeit, es wird dunkel", rief Kapa, "und wie kühl es vom Fluss geworden ist. Wie schön. Da sass ich immer, ich liebte den Ausblick auf Krasnoe, den Sonnenuntergang, die Wiese. Wo findet sich noch so viel Schönheit?", fügte sie begeistert hinzu."

"Vielleicht werden wir diese Schönheit bald verteidigen müssen!", dachte Viktor hörbar. "Die Engelwurz bei der Scheune, unser Haus, die Birken, den Flieder, diese Weiten, die geliebte Kirche von Krasnoe. Das wird bald geschehen, Leute, das Böse weht uns ins Gesicht. Ich werde mein Diplom machen und zur Armee gehen. Ich will dienen", bekannte er.

"Was erwartet uns? Alle wünschen sich Frieden, Glück. Aber was erwartet uns? Niemand weiss das.", sagte Kapa nachdenklich. "Viktor, du hast unsere kleine Kapelle in Djagilevo so schön gemalt. Und ich habe gehört, dass man dieses Zeugnis aus der Vergangenheit entfernen will."

"Nun, Kapočka, dir wird die Erinnerung an die Kapelle der Gottesmutter von Vladimir bleiben", antwortete Viktor leise.

"Viktor zeichnet hier gerne Kirchenarchitektur. Was für Zeichnungen wird er wohl aus Novgorod mitbringen?", fragte sich Parmen. "Sicher von vielen Kirchen. Denn in diesem Sommer geht seine Klasse nach Novgorod."

"Seht mal Leute, was für ein Himmel", – bemerkte Pavel, "morgen wird es regnen. Kap, siehst du die Wolken, schau mal! Warnzeichen sind oft nützlich im Leben."

"Pašečka, du scherzt", Kapa lächelte, "aber der Regen wird gut sein."

"Das ist eine gute Sache. Was dir alles einfällt!", Parmen runzelte die Stirn.

"Wenn es regnen wird, wird es einen Regenbogen geben", erklärte die Schwester, "ach, ich liebe Regenbogen!"

"Auch ich liebe den Regenbogen", Viktor stimmte ihr zu. "ich möchte einfach den Pinsel in seine leuchtenden Farben tauchen und mit diesen Farben irgendeine märchenhafte Studie malen", fügte er hinzu.

"Also, weitere Fantasien, ohne die könnt ihr anscheinend nicht sein", brummte Parmen, "na ja…"
"Kapa, steig aufs Fahrrad, auf den Gepäckträger, ich bringe dich nach Hause", schlug Viktor vor.
"Bring lieber deinen Blumenstrauss der Mutter", schlug die Schwester vor. "Wie er duftet. Wie Parfüm. Paša, gibt es solche Parfüme?"

"Solche wahrscheinlich nicht, aber es gibt ähnliche", antwortete Pavel.

"Ein weiteres Jahr wird vergehen, dann fünf Jahre, alles ringsherum wird blühen und sich des Lebens erfreuen", dachte Kapa. "In fünf Jahren werden wir 1942 schreiben. Viktor, wird es für uns alle ein glückliches Jahr sein?"

"Was weiss ich, Kapočka", antwortete Viktor. "Für uns? Ich weiss nicht. Aber ich möchte nicht, dass unser blühendes Königreich verdorrt. Möge es immer blühen, auch ohne uns. Wie du sagst: Es leben die Farben!"

"Es leben die Farben!", laut stimmte Kapa ein Lied an, und ihre klangvolle Stimme hallte über die Felder, den Fluss, das ferne Dorf durch Zeit und Raum…
Das Staatliche Museum für Palecher Kunst (GMPI) hat uns drei Fotografien mit Arbeiten von Parmen Zinovʼev zur Verfügung gestellt. (FW)
... Ja, "es leben die Farben!", sagte ich leise als ich aufwachte. Lange, lange lag ich einfach da, war unfähig, mich von meinem Traum zu trennen, der mich so in den Bann geschlagen hatte. Der ganze Körper war ohne Gefühl, aus irgendeinem Grund waren meine Wangen feucht, entweder von Tränen oder vom Nebel über dem Flüsschen Ljulech das ich verlassen habe, um in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Ich lag lange da, blickte zur Wand, erfreute mich an den Zeichnungen, die mir Onkel Parmen geschenkt hatte, und dachte:

Viktor Zinovʼev, Pavel Baženov und andere – wunderbare Künstler, gestorben am Anfang ihres künstlerischen Werdegangs. Sie starben für die Rettung unseres blühenden Landes, ein Land von Wäldern, Feldern, Dörfern und Kirchen. Sie starben für unsere Heimat und den sich über diese ausbreitenden Regenbogen, in den wir unsere Pinsel tauchen und den Frieden malen.
Es leben die Farben!!!

Hier endet die Erzählung von Marija Bokareva.

Das Staatliche Museum für Palecher Kunst (GMPI) hat uns drei Fotografien mit Arbeiten von Parmen Zinovʼev zur Verfügung gestellt. (FW)

Ratmir im Zauberschloss.
Pavel Zynovʼev, 1946.
Staatliches Museum für Palecher Kunst (GMPI KP-3725 SI 2003 L).
Feuervogel.
Kopie eines Panneaus von A.A. Dydykin.
Pavel Zynovʼev, 1973.
Staatliches Museum für Palecher Kunst (GMPI KP-4835 SI 234 Ž).
Feuervogel.
Pavel Zynovʼev, 1976.
Staatliches Museum für Palecher Kunst (GMPI KP-4295-3 SI 1894 L).

Die Übersetzerin Elena Buljukina hat sich im Dezember 2024 mit der Autorin Marija Bokarva über ihre Erzählung unterhalten.


DIE AUTORIN ÜBER IHREN VERWANDTSCHAFTSGRAD MIT DER FAMILIE ZINOV'EV:


Nikolaj Michailovič Zinov'ev ist mein Ururgrossvater. Und dementsprechend ist sein Vater – der Ikonenmaler Michail Ivanovič – mein Urururgrossvater. Nikolaj Michailovič Zinov'ev hatte fünf Kinder. Seine älteste Tochter Pavlina ist meine Urgrossmutter, und von den anderen vier (Capitolia, Viktor, Parmen und Vera) bin ich die Grossnichte.


DIE AUTORIN ÜBER IHRE INSPIRATION ZU DIESER ERZÄHLUNG:


Für Onkel Parmen war der Tag des Sieges jeweils ein Feiertag, der ihm durchaus Freude bereiten konnte. Aber zugleich war dieser Tag auch sehr schwierig für ihn. Manchmal blieb er sogar zu Hause. Dann litt er – während den allgemeinen Feierlichkeiten einsam in seinem Haus – unter seinen persönlichen Verlusten. Er vermisste seinen Bruder Viktor und seine liebe Braut Katja, die er an einem Frühlingstag verlor.


Ich habe das in meiner Schulzeit einmal so erlebt: Die ganze Klasse ging zur Parade. Wir trugen Blumen mit uns, um den Veteranen zu gratulieren. Ich wollte meinen Strauss Onkel Parmen geben, aber ich suchte ihn vergebens, er befand sich nicht unter den Frontsoldaten. Zufällig war ein anderer Veteran mit dem Namen Parmen unter den Veteranen. Mein Lehrer verstand nicht, wen ich suchte. Er wies mich an, die Blumen dem mir Unbekannten Parmen zu übergeben.


In den Kunst- und Produktionswerkstätten erlebte man den Tag des Sieges wie ein Festtag in einem Tempel. Nach der Kundgebung am Denkmal des Unbekannten Soldaten begaben sich die Künstler über den Fluss in die Werkstätten. Am Lagerfeuer diskutierten sie vor allem über Kunst und Kreativität, lauschten den bedächtig vorgetragenen Geschichten der Frontsoldaten, und sangen. Die Stimmen der altgedienten Künstler verschmolzen mit den Stimmen der jungen Meister - den Lehrern von morgen, den „alten Männern“ von morgen.


Deshalb liebe ich das Werk „Lied“ so sehr - es drückt die geistige Verwandtschaft der Generationen aus, die in den Momenten des Singens von Liedern so deutlich spürbar ist.

Lied.
Valentin Michajlovič Chodov, 1979.
Teller, Durchmesser 26 cm.
Staatliches Museum für Palecher Kunst (GMPI KP-4754 SI 2179 L).

Vor der Perestrojka, als es noch Werkstätten gab, linderte diese Gemeinsamkeit, dieses alle erfassende Mitgefühl, Onkel Parmens Schmerz, sein leidendes Gedächtnis wurde getröstet, sein Kummer hellte sich auf.


Später, Ende der neunziger Jahre, als die Werkstätten leer waren und sich nur noch wenige Menschen auf der anderen Seite des Flusses versammelten, begaben wir uns nach den offiziellen Feierlichkeiten zum Haus meiner Urgrossmutter, um Onkel Parmen zu gratulieren. Wie im Text erwähnt, lebten die Beiden im selben, in zwei Hälften geteilten Haus.


Unter den Eindrücken einer dieser Siegesfeiern reifte in mir die Idee für die vorliegende Erzählung. Mit ihr leben meine Erinnerungen weiter.