Palech malt nicht Prosa – Palech malt in Versen Aus dem Buch DIE KUNST PALECHS von Anatolij Bakušinskij
In seiner 1934 im Verlag Academia publizierten Monographie Die Kunst Palechs (Iskusstvo Palecha) präsentiert der Kunsthistoriker Anatolij Vasil'evič Bakušinskij zehn Jahre nach der Gründung der Palecher Genossenschaft für Alte Malerei eine umfassende Darstellung des Palecher Kunstschaffens in drei Teilen.
Der erste Teil Geschichte des Stils und Produktion ist der vorrevolutionären Palecher Ikonenmalerei im zaristischen Russland gewidmet.
Im zweiten Teil Die Palecher Kunst nach der Revolution beschreibt Bakušinskij den postrevolutionären Übergang von der Ikonen- zur Lackmalerei.
Ein dritter Teil Die neue Produktion berichtet über die Geschichte der Künstlergenossenschaft, über die Ausbildung und die neuen Palecher Kunstrichtungen (Lack- und Porzellanmalerei, Wandmalerei) Mitte der 1930er Jahre.
Es folgt eine deutsche Übersetzung der Kapitel I (Das neue Palech) und II (Der neue Palecher Stil) aus dem zweiten Teil. Bakušinskij hat den Übergang von der vorrevolutionären Ikonenmalerei zur neuen Palecher Kunst über Jahre aus nächster Nähe mitverfolgt. Er stand in regelmässigem Kontakt mit den noch als Ikonenmaler ausgebildeten Palecher Lackmalern der ersten Stunde. Ihnen stand er beratend zur Seite und unterstützte ihre kreative Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten in einer neuen Gesellschaft.
Aus dem Russischen von Gabriele Wolf-Keller, M.A., Dr. Felix Keller, Dr. Felix Waechter.
Teil II, Kapitel II Das neue Palech
Aleksej Maksimovič Gor´kij, der voller Interesse die Entwicklung der Lackminiatur verfolgte, riet den Künstler, für die Geschichte ihre besten Arbeiten aufzubewahren. Indem man diesen Empfehlungen nachkam, teilte man im „Artel der alten Malerei" ein Zimmer für Bilder ab, was auch den Grund für die Entstehung der Museumssammlung legte. Nach der Eröffnung des Museums wurden alle diese Bilder Exponate seiner Sammlung. Die Bestände des Palecher Museums wurden somit unter aktiver Teilnahme der Künstler gegründet, die dem Museum Werke der Lackminiatur und Entwürfe zu Theaterinszenierungen schenkten.
Golikov, I.I. Der Arzt wider Willen, Entwurf für das Theater, Anfang 1920er Jahre. Papier, Anilinfarben, 10, 8 x 8, 5 cm, GMPI .
In der ersten Ausstellung (erinnern wir uns, dass das Museum am 13. März 1935 eröffnet wurde) wurden etwas mehr als 540 Exponate ausgestellt, hauptsächlich Werke der Lackminiatur. Doch die Kollektion vermehrte sich rasch. Schon zehn Tage nach der Eröffnung des Museums übergibt ihm Efim Fedorovič Vichrev, der nicht wenige Anstrengungen zu dessen Organisation unternommen hatte, seine geliebte Kollektion von Miniaturmalerei – zweiundachtzig Werke. Und kurz danach schenkt auch Jakov Stanislavovič Ganeckij (polnischer Revolutionär, bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Mitglied des Kollegiums des Narkomvneštorg [Volkskommissariat für Aussenhandel]) dem Museum einzigartige Porzellanteller, die von den Gründern des Artels (Artel der alten Malerei, Anm. F.K.) bemalt worden waren: „Der Aufbau der RSFSR" von A.V. Kotuchin, „Die Verbindung/das Bündnis der Stadt mit dem Dorf" von I.V. Markičev und „Und er wirft sie über Bord" von I.M. Bakanov.
I.M. Bakanov Und er wirft sie über Bord, Teller, 1929. 22,7 x 35 cm.
Eine grosse Rolle bei der Errichtung der Museumssammlung spielt der erste Direktor des GMIP, German Vasil´evič Židkov, der dem Museum vom Augenblick der Gründung bis zum Jahr 1938 vorstand. Unter ihm machten die Sammlungen bereits anderthalb Tausend Bestandseinheiten aus. In jenen Jahren gelangten viele Arbeiten zu Themen der Werke A.S. Puškins, die von den Künstlern Palechs auf Anraten von German Vasil´evič geschaffen wurden, ins Museum. Die besten unter ihnen waren zweifelsohne die Platte „Das Märchen vom Fischer und dem Fischlein" von I.I. Zubkov, die Schatulle „Das Märchen vom goldenen Hahn" von I.M. Bakanov, die Dose „Das Märchen vom Zaren Saltan" von A.V. Kotuchin und die Schatulle „Die Dämonen" von I.P. Vakurov.
Golikov, I.I. Die Schlacht, Platte, 1932. Papiermaché, Eitempera, Lack, 16, 5 x 11 cm. GMPI.
Das Staatliche Museum der Palecher Kunst war nicht nur als Aufbewahrungsort der einzigartigen Arbeiten Palecher Künstler gegründet worden, sondern auch als kulturelles Zentrum mit Originalwerken der russischen und westeuropäischen Malerei. In der aufklärerisch-bildenden Politik der Entstehung der Sammlung sah G.V. Židkov eine der Hauptaufgaben des Museums. Gerade dank seinen Bemühungen erschienen im Museum Arbeiten russischer Künstler, Bilder italienischer, holländischer, flämischer und deutscher Meister des XVI-XIX Jahrhunderts.
Unbekannter Künstler Metropolit Dmitrij von Rostov. Parsuna (der Terminus bezeichnet Portraits in der Zeit des Übergangs von der Ikonenmalerei zum weltlichen Bild, Anm. F.K.). Anfang 18. Jahrhundert. Leinwand, Öl, 84 x 68,8 cm. GMPI.
Die Kollektion altrussischer Malerei in den Museumssammlungen wurde auch als Folge dramatischer Ereignisse jener Zeit vermehrt – der Schliessung von Kirchen auf dem Territorium des Palecher Bezirks. Die Übergabe der kirchlichen Kostbarkeiten an das Museum war faktisch auch ihre Rettung vor Zerstörung oder Plünderung. Ausserdem ergänzten Exponate, die durch Mitarbeiter von zahlreichen wissenschaftlichen Expeditionen durch das Gebiet Ivanovo mitgebracht wurden, die Sammlungen.
Vasil´ev, F.A. Landschaft mit Wolken. Leinwand, Öl, 55 x 46 cm. GMPI.
Da man die Notwendigkeit erkannte, die Quellen der Palecher Miniatur, nämlich die altrussische Malerei, zu erforschen, und man sich bemühte, koste es was es wolle, das wichtigste Palecher Heiligtum, die Kreuzerhöhungskirche mit ihren kostbaren Fresken zu erhalten, wandten sich die Künstler von Palech mit der Bitte an das Volkskommissariat für Aufklärung der RSFSR, die Kirche in die Struktur des Museums einzugliedern. Im Frühjahr 1936 wurde die Kirche dem Staatlichen Museum der Palecher Kunst übergeben.
Die Kreuzerhöhungskirche kam, als Abteilung „Altes Palech" [?], bis 1992 in den Bestand des Museums. 2014 wurde für das Staatliche Museum der Palecher Kunst ein neues Gebäude errichtet, in dessen Sälen die Ausstellung der einzigartigen Werke altrussischer Malerei, die Sammlung der westeuropäischen Malerei und Malereiarbeiten der Palecher Künstler untergebracht wurden. Die grossflächigen Ausstellungssäle erlauben es dem Museum, eine aktive Ausstellungs- und Vorlesungstätigkeit auszuüben sowie wissenschaftliche Konferenzen durchzuführen.
Das erste Exponat
Die Sammlung jedes beliebigen Fundus beginnt mit dem ersten Gegenstand (Exponat) zum Thema, mit dem sich das Museum auch befassen wird. Die Leser [unseres] Almanachs haben die seltene Möglichkeit, Gegenstände kennenzulernen, die noch vor der offiziellen Museumseröffnung gesammelt wurden, darunter auch das allererste Exponat.
„GMPI 1-1" – unter dieser Signatur ist im Inventarbuch der Sammlungen des Staatlichen Museums der Palecher Kunst die kleine Miniatur „Jaroslavnas Klage" eingetragen, eine Arbeit von Ivan Ivanovič Golikov, gemalt auf einer Platte aus Papiermaché im Jahre 1928. Gemäss den Angaben des Museumskatalogs, gelangte das Werk am 11. Juli 1934 aus dem „Artel alter Malerei" in das Museum und war für 20 Rubel und 50 Kopeken gekauft worden.
Golikov, I.I. Jaroslavnas Klage, Platte, 1928. 15 x 12 cm. GMPI.
Die Miniatur „Jaroslavnas Klage" entstand in der Blütezeit der schöpferischen Tätigkeit sowohl von Ivan Ivanovič Golikov selbst, als auch seiner Freunde aus dem „Artel alter Malerei". Die Thematik des Schaffens der Palecher Künstler erweiterte sich. Sie strebten nach einem tieferen Verständnis des Raums, einem komplizierteren Rhythmus, einer Vielschichtigkeit der Darstellung.
Es ist schwierig zu sagen, was Golikov veranlasste, für die Miniatur ein Sujet aus dem russischen Epos ("Igorlied", Anm. F.K.) zu wählen, aber dies war Ausdruck allgemeiner schöpferischer Suche und Impuls zu ihrer Entwicklung. In „Jaroslavnas Klage" ist alles enthalten, was die Künstler von Palech jener Zeit bewegte: sowohl Konkretisierung und Psychologisierung des Bildes, als auch plastische Ausdruckskraft, als auch kompliziertere Behandlung des Raums.
Im Zentrum der vertikalen Komposition steht die vergrösserte Gestalt von Jaroslavna. Übereinstimmend mit dem Text des „Igorlieds" steht Jaroslavna auf der Stadtmauer und bittet die Elemente flehend um den Schutz ihres Mannes, den Fürsten Igor. Hinter dem Rücken der Heldin, in einer zweiten Ebene zeichnet sich konventionell die Stadt Putivl´ ab. In der ihm eigenen halbskizzenhaften Art „alla prima" schafft Golikov ein Bild voller Lyrik, Musikalität und gleichzeitig epischem Wohlklang.
Golikov, I.I. Jaroslavnas Klage, Fragment, Platte, 1928. 15 x 12 cm. GMPI.
Die Zeichnung ist im oberen Teil der Komposition reduziert, wo sich mit Gold gezeichnete Schlachtszenen entfalten. Sie sind plastisch verbunden mit der übrigen Komposition und bilden ihre unmittelbare Fortsetzung. Zur grösseren Konkretisierung des Bildes fügte der Künstler in zwei Reihen um die Komposition herum den Text des Werks (aus dem „Igorlied", Anm. F.K.) in der Übersetzung von Nikolaj Gerbel´ (1827-1883, u.a. bedeutender Übersetzer, Anm. F.K.) ein. Aber ungeachtet des Textes stellt sich Golikov nicht die Aufgabe, gerade diese Zeilen zu illustrieren. Der literarische Text ist emotionaler und dynamischer, während der Künstler bedeutsame rhythmische Pausen verwendet, die die Komposition gleichsam mit Stille erfüllen. In vielem strebt er nach der passenden Stimmung auch durch einen besonderen Farbklang. Da Golikov ein phantastisches malerisches Denken beherrscht, deckt er die epische Geschichte des „Igorlieds" mittels seiner einzigartigen Palette auf.
Das Thema Epos ist in den folgenden zehn Jahren eines der am meisten ausgearbeiteten. Bei Golikov erhielt es seine Entwicklung in der Buchgraphik. Zum zehnten Jahrestag des „Artel" erscheint im Verlag „Academia" das Buch „Das Igorlied" mit seinen Illustrationen. Die Suche nach der nötigen Ausdruckskraft in den Skizzen für den Verlag führte den Künstler zu einer noch reicheren Gliederung der Komposition, einem noch virtuoseren Ausdruck der Zeichnung, zu einer „Teppichhaftigkeit" der allgemeinen kompositorischen Gegenebenheit und einer rhythmischen Verdoppelung, die dem literarischen Text folgte.
Das kostbare erste Exponat in der Sammlung des Staatlichen Museums der Palecher Kunst verlässt selten das Bestandsdepot. Die Arbeit wurde niemals veröffentlicht, war deshalb der breiten Masse unbekannt. Aber in der letzten Zeit erschien die Platte „Jaroslavnas Klage" mehrmals in den Ausstellungssälen des Museums. Sie wurde in der Ausstellung zum 80-jährigen Jubiläum des Staatlichen Museums der Palecher Kunst und in der Ausstellung „Durch die Stürme der Epoche" (zum 130-jährigen Geburtstag von I.I. Golikov) gezeigt.