Natur, Mythos und Allegorie

Aleksej Dmitrievič Kočupalov
Aleksej Dmitrievič Kočupalov 1940 - 2010.
Laureat...
Im folgenden werden neun Arbeiten des Künstlers vorgestellt. Die dazugehörenden Texte stammen vom Künstler.
Aus dem Russischen von Gabriele Wolf-Keller, M.A. und Dr. Felix Keller.
König Lear
König Lear.
Schatulle, 1994, Detail.
Die Arbeit König Lear wurde vom Künstler in der traditionellen Technik der Palecher Lackminiaturmalerei in Eitempera unter Verwendung von Gold und Silber ausgeführt. Die Arbeit vereinigt Motive aus W. Shakespeares Tragödie König Lear. Der Komposition, dem Bildaufbau, liegt das Pathos der erhabenen Tragödie, des menschlichen Dramas, der spannungsgeladenen Psychologie zu Grunde.
König Lear.
Schatulle, 1994, 15 x 32 x 14 cm.
Auf allen fünf Seiten dieser von der Form her originellen Schatulle entfaltet sich allmählich und folgerichtig das Wesen und der Sinn der Tragödie. Das Werk ist weltweit bekannt, und es besteht keine Notwendigkeit einer Nacherzählung. Die wesentlichen Momente dieses Dramas sind die Bedeutungsknoten aller fünf Kompositionen, die Apotheose der ganzen dramatischen Bildreihe aber ist die Komposition auf dem Deckel der Schatulle, deren Basis der Aufruf des dem Wahnsinn nahen Lear an alle Naturkräfte ist (an Sturm, Regen, Gewitter), für alle niederträchtigen Laster aller und für Alles zu bestrafen.
König Lear.
Schatulle, 1994, Seitenansicht.
Der szenische Urgrund der Tragödie hat dem Künstler die Prinzipien des kompositorischen Aufbaus aller Szenen diktiert, der genauen Akzente, die die Eigenart jeder der fünf Kompositionen als theatralische Handlung bestimmen.
Herbst
Herbst.
Dose, 1980, 20 x 24 cm.
Die Arbeit Herbst (A.S. Puškin) wurde vom Künstler in der traditionellen Technik der Palecher Lackminiaturmalerei in Eitempera unter Verwendung von Gold und Silber ausgeführt.

Das Ausgangsmaterial, das dem Grundgedanken dieser Arbeit diente, sind zwei Werke von A.S. Puškin, nämlich Herbst (Trostlose Zeit …) und Der 19. Oktober (Es verliert der Wald sein purpurnes Gewand …). Die lichte Lyrik des ersten und die spannungsgeladene Dramatik des zweiten Gedichts bemüht sich der Künstler in seiner Bildauffassung Puškins zu einer Einheit zusammenzuführen.

Die Hauptaufgabe sieht der Künstler darin, den Dichter, den hellen Genius, abzubilden, und zu diesem Zweck bemüht er sich, mit allen Kompositionselementen, durch das Gesamtbild jene Atmosphäre zu schaffen, die auch im Leben von Puškin in hohem Masse seine Inspiration und die Verwirklichung seiner göttlichen Begabung begünstigte. Der Künstler liess sich durch seine tiefe Liebe zum Dichter leiten. Es ist allgemein bekannt, dass der Herbst Puškins Lieblingsjahreszeit war, sie inspirierte ihn, mit ihrem Beginn „blühte er wieder auf …". Puškin ist, „als Erscheinung", unerreichbar, und jeder Versuch, diese Gestalt auch nur zu streifen, ist eine verzweifelte Vermessenheit.
Triumph des Lichts
Triumpf des Lichts.
Panneau, 1981, 55 x 40 cm.
„ … Der konkrete Bildaufbau entstand aus meiner Vorstellung des Bildes der Nacht mit einer Kerze in der Hand, die ihr Gesicht beleuchtet. Die Nacht ist eine riesige Macht, eine stolze Zarin, unbeugsam. Neben ihr zwei Wächter, aus irgendeinem Grund auf Pferden. Vielleicht weil Assoziationen mit dem Kaukasus, mit dem Osten, mit der Poesie von Lermontov u.a. aufgekommen sind. Die Pferde sind monumental, es blitzen die Schwerter, die Helme östlichen Typs mit Federbüschen und Kämmen. Aufmerksame Gesichter, gespannte Körper. Die Pferde, ihre Schnauzen, darin ebenfalls etwas Asiatisches. Vielleicht weil Vieles aus Asien nach Russland gekommen ist und weil die Nacht aus dem Osten kommt, wie auch das Licht. Darin ist auch etwas Nächtliches. Insgesamt ein Gefühl von Kühle, Tau, gespenstischem Licht. Die Wächter bilden zusammen mit der Nacht ein Ganzes, sie halten den Schleier der Nacht, darüber die Sterne usw. Dies alles ist symbolisch und konventionell. Aber hinter dem dunkeln Schleier der Kuppel dämmert das Licht, die ersten Strahlen. Bei mir gibt es zwei Dämmerungen, eine morgendliche und eine abendliche. Die ersten Strahlen, die fliessenden Bewegungen, die Figuren der Dämmerungen werden fragmentarisch gezeigt, die Hände, die Arme richten die Haare. Die Bewegungen sind harmonisch. Ich beobachtete im Winter, wie die Morgendämmerung beginnt. Die Dämmerungen sind lyrisch, feierlich, eine leise Melodie. Die Ouvertüre dessen, was sein wird. Und hier sind auf beiden Seiten zwei Krieger, die angespannt sind, wie in der Schlacht, aber es gibt keine Schlacht, es ist der klare, unerbittliche Lauf der Zeit, der kosmische Rhythmus und das kosmische Gesetz. Es gibt eine Symmetrie, aber sie ist nicht mechanisch, nicht vollständig. Tag und Nacht sind niemandem untergeben, ein endloser Wechsel des einen und des anderen, des Tages und der Nacht, des Dunkeln und des Hellen. Der Lauf der Zeit. Fusssoldaten.

Und darüber der Tag. Kampf. Die Boten des Tages auf hellen Pferden, symbolisch, sie stossen ins Horn, verkünden den Anbruch des Tages. Die Pferde sind einem Nebel entstiegen, sie sind grünlich, die Reiter sind jung, gelockt, eine neue Generation, eine junge Kraft. Hinter diesen Boten ist die Figur des jungen, unbestimmten Tages, die Reiter grüssen mit ausgebreiteten Armen die ganze Welt. Der Tag ist in ein weisses Hemd gekleidet, er symbolisiert Wahrheit, Edelmut, Gerechtigkeit, das Licht an sich. Ein einfaches Gesicht, ohne jegliche aus-geprägte Züge, nicht Zar, nicht irgendjemand anderes, ein schlichtes Gesicht. Von hinten die Strahlen des zurückgeschlagenen Mantels. Die strenge Haltung der Nacht ist ein Symbol. Durch dem Schleier hindurch ist wenig zu sehen, das Übrige ist verborgen. Der Rhythmus der Bewegungen ist streng, majestätisch, überzeugt davon, dass die Nacht zurückkehrt, wie auch der Tag … Es wird deutlich: die Komposition muss vertikal sein. Die horizontale Komposition ist erzählend. Die Ellipse verleiht Spannung, Dynamik …"

V. T. Kotov
Die Wunderschöne Vasilisa

Die Wunderschöne Vasilisa.
Teller, 1982, 24 cm Durchmesser.
Mittlerer Teil des Märchens.

… Nach der Abreise des Kaufmanns wird Vasilisa das Leben zur Qual. Eines Abends verteilt die Stiefmutter ihren drei Töchtern Arbeit, selbst aber nimmt sie das Feuer und löscht es im ganzen Hause aus. Die beiden bösen Schwestern schicken Vasilisa nach Feuer zur Baba-Jaga. Vasilisa legt die Zauberpuppe in ihre Tasche und geht in den schlummernden Wald.

Plötzlich sprengt an ihr vorbei ein Reiter – ganz weiss, in Weiss gekleidet, auf einem weissen Pferd, das Pferdegeschirr weiss: draussen beginnt es zu tagen. Sie geht weiter, da sprengt ein zweiter Reiter vorbei – ganz rot, in Rot gekleidet, auf einem roten Pferd: da geht die Sonne auf. Vasilisa tritt auf die Lichtung, wo die Hütte der Baba-Jaga steht. Plötzlich kommt wieder ein Reiter – ganz schwarz, in Schwarz gekleidet, auf einem schwarzen Pferde: plötzlich bricht die Nacht an …

In der Komposition sind alle drei Reiter und die Wunderschöne Vasilisa bei der Hütte der Baba-Jaga abgebildet.
Die Sonne, der Mond und der Rabe Voronovič

Die Wunderschöne Vasilisa.
Teller, 1982, 24 cm Durchmesser.
Erster Teil des Märchens.

Es lebten einmal ein Alter und eine Alte. Der Alte ging in die Scheune Grütze holen, aber er verschüttete sie unterwegs. Er wollte sie einsammeln und sprach dabei: „Würde die Sonne mich wärmen, würde der Mond mir leuchten, würde der Rabe Voronovič mir helfen, die Grütze einzusammeln, dann gäbe ich der Sonne die älteste Tochter zur Frau, dem Mond die mittlere, dem Raben Voronovič die jüngste."

Da erschien die Sonne und wärmte ihn, der Mond beleuchtete den Weg, der Rabe Voronovič aber half ihm, die Grütze einzusammeln. Der Alte hielt sein Versprechen …
Herbst. Allegorie
Herbst. Allegorie.
2002 - 2003, Detail.
„Herbst. Allegorie" ist eines meiner ersten Werke mit monumental-allegorischer Bildkonzeption.

Da ich seit langer Zeit auf dem Lande lebe und beständig die Natur in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit vor Augen habe, bin ich stets hingerissen von ihrer Schönheit, ihrer unmerklichen Veränderung. Aus dem Fenster meines Ateliers unmittelbar hinter dem Gutshof ist ein kleiner Birkenhain, durchmischt von Espen, Ahorn, Fichten, Kiefern und verschiedenartigen Büschen, zu sehen. Als ich mich einmal am Zauber des herbstlichen Hains erfreute und hinter der Vielfalt seiner Farben und Schattierungen die vorabendliche Stille vernahm und bemerkte, wie langsam ein leichter Nebel aufzog, entstand in mir plötzlich der Gedanke, diese ganze Schönheit der russischen Natur zu vergeistigen, zu beleben, indem ich sie in allegorischen, sich in der Zeit (von September bis November) verfliessenden Bildern vorstellte.
Herbst. Allegorie.
2002 - 2003, 150 x 250 cm.
Und das unwirkliche, erhabene Bild begann in meiner Phantasie Gestalt anzunehmen. Die Monate als mythisch-männliches Fundament in der Natur, der Herbst selbst als wunderschöne, aber bereits welkende Frau. All´ dies verschwommen, irreal, wenig differenziert, gleichsam aus der Natur selbst entstehend und sich als ihr organischer Teil zeigend. Und alle Phantasiegebilde begannen sich leicht und frei zu seltsamen Ornamenten des Hains zu verflechten. Ihre Gewänder waren geschmückt mit fallendem Laub, verflochtenen Zweigen, wunderbaren Blumen, Waldbeeren, Perlentautropfen. Die leichten, lockeren Gewänder der Figuren wallen bald luftig-weich, bald fallen sie ruhig herab. Absolute Stille. Die kaum sichtbaren Nebelschwaden (wörtlich: Mähnen des Nebels, F.K.) kriechen langsam zwischen die Gestalten und Bäume; sie verleihen den Figuren eine überirdische Erhabenheit und verflüchtigen sich auf dem abgemähten Feld. Nichts stört die Ordnung der Elemente. Den langsam sich verdunkelnden Himmel beleuchten die weichen und zarten Strahlen des Sonnenuntergangs. Unmerklich und lautlos fallen welke Blätter. Die vertikalen Linien der erstarrten Bäume, aufgelöst vom vorabendlichen Himmel, verstärken noch die Empfindung allgemeiner Harmonie und Eintracht. Indem er das bekränzte Haupt neigt und die Hände vor der Brust kreuzt, entfernt sich traurig der September. Auf seiner Schulter ruht eine glänzende Sichel, das Symbol der Ernte. Das schöne Gesicht des Herbstes ist nachdenklich. Seine Kleider wehen wie Nebelschwaden, als ob sie sie hervorbrächten. Er fühlt die Nähe des Novembers und die Vergänglichkeit der Zeit. Neben ihm schreitet langsam und erhaben der Oktober (der Jäger). Er führt mit dem Herbst ein unhörbares, unbestimmbares Gespräch. Mit einer leichten Bewegung der rechten Hand verstreut er fallende Blätter ... Rechts vor ihnen erwartet sie der November mit einer Fackel in der Hand, denn es dunkelt und wird kühl, die Natur erkaltet. Nah ist das Ende des Herbstes. Kurz nur noch ist seine Zeit. Die überirdischen, wundersamen Bilder lösen sich auf und verschwinden. Die prachtvollen Gewänder wirken trügerisch. Der Hain entblättert sich und verwaist; er bereitet sich darauf vor, die ersten Schläge eines Unwetters zu empfangen.

Trostlose Jahreszeit!
Der Augen Zauber.
Angenehm ist mir deine Abschiedspracht.1)

Eine schöne, stille, zärtliche, traurige Symphonie, aber hinter ihr tönt schon kaum hörbar ein Requiem.

1)Anfang der VII. Strophe des Gedichts „Osen´ (Otryvok)" [´Herbst (Fragment)´] aus dem Jahre 1833 von Alexander Puschkin.
Der Hofnarr
Der Hofnarr.
1998, Leinwand, Kohle, Eitempera, 100 × 70 cm.
Die Idee zur Gestalt eines Hofnarren des westeuropäischen Mittelalters, einer verallgemeinerten, typisierten Gestalt, bildete sich in meinem Bewusstsein unter dem Eindruck der Tragödien Shakespeares, insbesondere der Tragödie „King Lear", heraus.

Die sitzende Figur des müden, erschöpften Hofnarren, der sich vor seinem Herrn in einer abgelegenen Ecke des Königsschlosses versteckt, drückt durch seine entkräf-tete Haltung, durch seinen Blick, durch die Neigung des Kopfes äusserste Mattigkeit, das tiefe innere Erleben eines klugen, geistig reichen Menschen aus, der durch die Umstände gezwungen ist, die niedrige, verachtete Rolle eines Hofnarren zu spielen. Die auf den Hinterkopf geschobene Narrenkappe, die kraftlos herabhängende rechte Hand, die unbewusste Bewegung der linken Hand, die gewohnheitsmässige Bewegung des Aufknöpfens des Gewandes und seine ganze Haltung unterstreichen die Tragik, den seelischen Schmerz und die Auswegslosigkeit seiner Lage.

Die Attribute des Narrenspiels sind chaotisch verstreut. Der Hofnarr ist völlig in sich, in seine Gedanken versunken. Sein wundervolles kluges Gesicht mit der hohen offenen Stirn ist von einem tiefen Gedanken erfüllt. Das lebende Spielzeug des Königs und seines Gefolges – Gegenstand der Verspottung, des Hohns und der Verachtung, gezeigt in seiner Einsamkeit – enthüllt sein außergewöhnliches menschliches Wesen. Das ist die Grund- und Hauptidee meines Vorhabens.

Als ich an dem Bild arbeitete, empfand ich grosses Mitleid und Mitgefühl mit dem Menschen, der gezwungen ist, diese klägliche Rolle zu spielen.

Ich habe absichtlich auf eine farbige Lösung verzichtet, da die notgedrungen grellen, kontrastreichen effekthaschenden Farben des Narrenkleides und aller anderen Attribute unwillkürlich die Aufmerksamkeit des Betrachters vom Grundwesen meines schöpferischen Gedankens ablenken und eine gewisse Zwiespältigkeit in der Wahrnehmung dieser tragisch schönen Gestalt hervorrufen würde.
Die Mondscheinsonate
Die Mondscheinsonate.
1998, Leinwand, Kohle, Eitempera, 100 × 70 cm.
Das Fliessen silbrig-bläulichen Lichts, bald erstarrend, bald sich verflechtend in dynamische Strahlen, richtet sich nach unten, wobei es aus dem nächtlichen Dunkel aufblitzt, indem es bald das Blätterwerk, bald die wundervollen mythischen Blumen des nächtlichen märchenhaften Gartens versilbert, der in den anströmenden Wellen des Lichts verschwindet. Von einem luftig-leichten, leuchtenden Nebel ist eine schöne, poetische Frauengestalt umhüllt, die in somnambuler Ekstase einen sakralen, mystischen Tanz aufführt. Ihre ganze unwirkliche, durchsichtige, im Mondlicht gleichsam schwebende Gestalt blinkt vor Kleinodien. Die Falten des gleichsam aus Nebeln und Lichtstrahlen gewobenen dünnen Kleides fliessen organisch in wellenförmigen Bewegungen in eine musikalische, helle Symphonie ein. Das Augenmerk konzentriert sich auf das hell erleuchtete schöne Gesicht. Der halbgesenkte Blick, das Fehlen eines bestimmten Gesichtsausdrucks sowie das Schweigen und die Stille drücken einen Zustand völliger Entrücktheit von allem Irdischen, Gegenwärtigen aus, eine absolute Versenkung in jene innere Musik, die in ihrer Seele klingt und sich mit einem höheren, allumfassenden Tönen vereinigt.

Die bald anschwellenden, sich verstärkenden, bald erstarrenden Töne – die Rhythmen einer verzaubernden Melodie, die durch ein ausgefeiltes Arrangement (Gräser, Blätter, Blumen, Verzierungen u.a.m.) bereichert sind, tragen in sich eine vollkommene Harmonie und die Empfindung eines höchsten Triumphs der Schönheit und der allumfassenden Liebe.

Der Klang eines schön eingespielten Orchesters (aller Kompositionselemente, ihrer Plastik, Bewegung) erzeugt eine hinreissende Musik, vergeistigt den göttlichen hellen Ursprung, indem es dem Werk Geschlossenheit, Harmonie und Makellosigkeit verleiht, ungeachtet des Fragmentarischen seiner Auflösung, des Nicht-Ausdrückens, des Fehlens einer realen Farbe.

Die eigentliche Idee dieser bildhaften Verkörperung entstand und formte sich in meinem Bewusstsein unter dem tiefen Eindruck der genialen „Mondscheinsonate" von Beethoven in der Interpretation von S. T. Richter, meinem grossen Lieblingsmusiker des 20. Jahrhunderts.
Die Muse (Allegorie)
Die Muse (Allegorie).
2004, Leinwand, Kohle, Eitempera,120 × 100 cm.
Die Gestalt der Muse ist in meinem Schaffen nicht zufällig entstanden. Obwohl natürlich ein Bild, wie immer, unerwartet entsteht, sogar unabhängig davon, woran ich im gegebenen Augenblick gedacht habe. Eine gewisse Zeit lang begeisterte ich mich sehr für Poesie und erfuhr am eigenen Leib alle Mühen dieser Arbeit, wobei ich danach trachtete, so tief wie möglich das eigentliche Wesen der Poesie, ihrer Eigenheiten, ihres Reims, ihrer Rhythmen, ihrer Musikalität, ihrer Bildpoesie, ihres Wortverständnisses, des Vordringens zu ihrem wahren Sinn zu ergründen usw. Nachdem ich einige Gedichte geschrieben hatte, spürte ich die Qual meiner Unfähigkeit, meiner ungenügenden Professionalität. Ich konnte mich jedoch keineswegs an den Gedanken gewöhnen, dass ich, ein so tief und bildhaft denkender und fühlender Mensch, als Künstler nicht in diese Kunstsphäre eindringen konnte. Und so hat mein quälender Zustand des Unvermögens das Bild „Die Muse" hervorgebracht, das mir zur Hilfe im Traum erscheint.

Nacht. Der Dichter schläft nach langer Arbeit an den Manuskripten. Auf seinem Arbeitstisch sind unordentlich Bücher, Manuskripte, Federn, ziemlich niedergebrannte erloschene Kerzen verstreut. Stille.

Und plötzlich schwebt durch die geöffnete Balkontür völlig lautlos die Muse herein, leicht und durchsichtig, wie ein Traum. Ihr Überhang breitet sich in sehr leichten, durchsichtigen Flügeln aus. Ihr Kleid, ihr Schmuck funkelt und strahlt gleichsam selbst Licht aus. Und sie selbst, ihre Augen, die wundervolle Durchgeistigung ihres Gesichts, die dünnen, zarten Hände – ist vom Licht der Wahrheit, der göttlichen In-spiration des Genius durchdrungen.

Sie ist allherrschend und allmächtig. Das Flattern der zarten, schwerelosen Kleider, ihre feinen Bewegungen unterstreichen ihr überirdisches Wesen. Sie ist eine Abgesandte von oben. Mit lautlosen Schritten nähert sie sich dem Tisch des Dichters und legt eine wunderbare Feder auf den Tisch – das Symbol der Erleuchtung und der Inspiration. In der rechten Hand hält die Muse eine brennende Kerze – das Zeichen des göttlichen Segens des Dichters für neue geniale Eingebungen. Das alles ist nur ein Traum des Dichters, aber ein für ihn segenspendender Traum. Und es zeigt sich, dass die Inspiration unfehlbar ihre Früchte bringt. Hinter dem zurückgeschobenen Vorhang steht eine Büste des grossen Homer. Er ist gleichsam Zeuge dieses Geheimnisses. Er selbst ist der Ausgangspunkt aller Dichtung. Sowohl seine Anwesenheit, als auch das Geheimnis sind Zeichen dafür, dass die Dichtkunst ewig ist.

Das bleiche Mondlicht beleuchtet weich die Gartenblumen, als Heiligenschein konzentriert es sich um das Köpfchen der Muse, indem es sich über die Flügel des Umhangs ergiesst und sich mit dem Licht der Kerze vermischt.

Die Handlung vollzieht sich. Der durch die Vorstellung des Künstlers festgehaltene Augenblick verlängert diese wunderbare Verzauberung.