Wie hat das alles angefangen?
In ihrem Aufsatz berichtet Irina Safonova über die Anfänge der Lackminiaturmalerei in Palech. Er erschien am 11. Juni 2007 in der Rubrik „Epochen unserer Geschichte" der Palecher Wochenzeitung „Prizyv" („Aufruf").
Aus dem Russischen von Gabriele Wolf-Keller, M.A., Dr. Felix Keller, Dr. Felix Waechter.
Mit grossem Interesse las ich in der Zeitung „Prizyv" einen Aufsatz der Wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Museums E. Miljutina über die Entstehung der Palecher Kunst der Lackminiatur: Über die ethischen und materiellen Schwierigkeiten der Palecher, darüber wie Kunstexperten wie A.V, Bakušinskij und andere die ehemaligen Ikonenmaler unterstützten. In mir war dieselbe Thematik „herangereift", aber mein Interesse galt mehr den rein menschlichen Faktoren.

Nimmt jemand zum ersten Mal eine Palecher Schatulle in die Hand, dann stellt er meist die Frage: „Woraus und wie ist sie hergestellt?" Die Antwort lautet in der Regel: das ist gepresster Karton, Papiermaché. Papiermaché (wörtlich „zerkautes Papier") ist eine Masse, hergestellt aus einem Gemisch von faserigen Materialien (Papier, Karton) mit Leim, Stärke und Gips. Die Masse durchläuft eine bestimmte Verarbeitung. Aber wie es zum Palecher Papier-maché gekommen ist – das ist eine Geschichte für sich.
Bauern oder Künstler?
Im Jahre 1905 begann das Chaos in Russland. Handelsbeziehungen brachen zusammen. Es wurde schwieriger, Ikonen zu verkaufen. Viele Palecher Ikonenmaler gingen weg, um ihr Glück in anderen russischen Städten zu suchen.

Aleksandr Vasil´evič Kotuchin erzählte: „Im Jahre1909 fuhr ich nach Moskau. Ich arbeitete in der Werkstatt meines Schwagers A.A. Glazunov. Die Arbeit war ausschliesslich Ikonenmalerei, aber sie war interessant. Ich lernte hier eingehend alle Stilrichtungen der Ikonenmalerei. Besonders gefiel mir der Stroganov-Stil. Ich erinnerte mich an alte Jugendträume, Tafelmaler zu werden; deswegen begann ich, verschiedene Ateliers für Malerei, Bildhauerei und Architektur zu besuchen, und studierte von neuem. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. An der Front war ich Nachrichtensoldat und wurde mit dem Georgskreuz ausgezeichnet. 1917 kehrte ich nach Palech zurück. Arbeit für einen Ikonenmaler gab es überhaupt keine mehr. Wir waren Bauern. Vielen wurde ein winziges Stückchen Land bei der „weiten Wiese" zugeteilt (das ist dort, wo sich heute bei der Einfahrt nach Palech eine Kiesgrube und eine Müllhalde befinden). Man war auch gezwungen, Bastschuhe zu flechten. Man versuchte, eine „Genossenschaft für Malerei auf Holz" zu gründen – ohne Erfolg. Da kam das Jahr 1922."

In eben dieser Zeit arbeiteten bereits zwei Palecher Ikonenmaler, I.P. Vakurov und I.I. Golikov, in Moskau in der alten Ikonenmalwerkstatt von A.A. Glazunov. Aber sie malten keine Ikonen mehr, sondern bemalten Erzeugnisse aus Papiermaché, die nach kurzer Zeit sehr gefragt waren. A.A. Glazunov war ein guter Organisator und begriff sogleich, dass das eine einträgliche Sache war. A.V. Kotuchin erfuhr von diesem neuen Unternehmen, fuhr sofort nach Moskau, machte sich rasch die Malerei auf Papiermaché zu eigen und beteiligte sich eifrig an der Arbeit dieser kleinen Genossenschaft. Wie früher nahm A.A. Glazunov Bestellungen des Gewerbemuseums an und erhielt eben dort aus Fedoskino Halbfabrikate aus Papiermaché. Als man aber in Fedoskino erfuhr, dass die Palecher ihre Halbfabrikate bemalten, weigerte man sich, das Gewerbemuseum weiterhin zu beliefern.

Mehrere Male fuhren A.A. Glazunov und A.V. Kotuchin nach Fedoskino, um eine Vereinbarung über die Lieferung von Halbfabrikaten zu erreichen. Widerwillig erklärte man sich in Fedoskino einverstanden, aber zu einem sehr hohen Preis. Für die Palecher lohnte sich das nicht.

Es stellten sich zwei Fragen:
1. in Palech eine eigene Genossenschaft zu gründen,
2. selbst Halbfabrikate aus Papiermaché herzustellen.
Zunächst wurden die „Rebellen" nicht zugelassen
Am Abend des 5. Dezembers 1924 bekamen die Brüder und Ikonenmaler Aleksandr und Vladimir Kotuchin Besuch von ihren (über die Frauen) Verwandten Ivan Ivanovič und Aleksandr Ivanovič Zubkov sowie von den Freunden Ivan Vasil´evič Markičev und Ivan Michajlovič Bakanov. Ivan Ivanovič Golikov und Ivan Petrovič Vakurov waren nicht dabei, da sie zu dieser Zeit in Moskau einen betrieblichen Konflikt mit A.A. Glazunov austrugen, und dieser hatte beschlossen, die „Rebellen" in dieser Angelegenheit nicht zuzulassen. Die im Hause Kotuchin versammelten Ikonenmaler machten sich darüber Gedanken, wie es mit dem Leben und der Arbeit weitergehen könnte.

Sie beschlossen, eine „Genossenschaft für Alte Malerei" zu gründen. Daraufhin wurde auch der erste Vorsitzende der Genossenschaft gewählt – A.V. Kotuchin. Zum Handelsbevollmächtigten in Moskau bestimmte die Genossenschaft A.A. Glazunov.

Um diesen Beschluss zu bekräftigen, liess A.V. Kotuchin Wodka besorgen, der auf das gute Gelingen der neuen Organisation getrunken wurde. Auf seinen Reisen nach Fedoskino erkundigte sich A.V. Kotuchin sehr genau nach der Herstellung der Halbfabrikate. Er besichtigte die Werkstatt mit ihrer primitiven Ausstattung (Pressen und andere Vorrichtungen zur Herstellung von Papiermaché), erbat sich Karton- und Tonmuster für das Spachteln der Schachteln und war sehr verstimmt, weil es diese Art von Ton nur an einer einzigen Stelle in Moskau gab.

Nachdem der Vorsitzende der Genossenschaft Karton, Öl und verschiedene Sorten Lack gekauft hatte, begann er zu experimentieren (diesen Vorgang beschreibt A. Navozov sehr anschaulich in seinem Buch „Das Wunder von Palech"). Das war eine sehr schwierige und mühsame Arbeit, und es gab viel Ausschussware.
Besser als die Fedoskiner
Die Herstellung erforderte auch Schreinerarbeiten. Und so liess A.V. Kotuchin aus dem Dorf Podolino den ungelernten Schreiner Ivan Stepanovič Babanov kommen, einen sehr begabten Mann mit grossem Talent. „Nun erzähl schon, Vasil´evič, was und wie sie es dort machen, dann eignen wir uns diese Fertigkeiten an." Als er das Meiste verstanden und noch weiter darüber nachgedacht hatte, stellte Ivan Stepanovič die ganze Ausstattung selbst her: eine Werkbank, Klemmvorrichtungen, Pressen sowie verschiedene kleine Sägen. Jetzt konnte es losgehen. Für die Zusammensetzung des Lacks holte man den alten Firnisspezialisten S.V. Sosin; zudem eignete sich der Palecher Ton hervorragend für das Grundierungsgemisch. Die Künstler der Genossenschaft waren alle erfreut. Die Palecher Halbfabrikate aus Papiermaché erwiesen sich qualitativ sogar besser als die aus Fedoskino. Die von A.V. Kotuchin und seinen Helfern I.S. Babanov und S.V. Sosin erarbeitete Methode zur Herstellung von Papiermaché gehört bis zum heutigen Tag zum Rüstzeug der Palecher.

Die Mitglieder der Genossenschaft kauften ein Ziegelsteinhaus als Verwaltungsgebäude und Produktionswerkstatt.

Auf den Schultern von A.V. Kotuchin lasteten gewaltige organisatorische Aufgaben. Er musste das Kollektiv seiner von ihm vereinigten äusserst talentierten Künstler zusammenhalten. Jedem Künstler wurde das Recht freien Schaffens zugestanden, und so konnten die ehemaligen Ikonenmaler ihre persönliche Handschrift und ihre thematischen Vorlieben entfalten.

Es war auch schwierig, die Widerstände der lokalen Obrigkeit zu überwinden, die den Wert und die Bedeutung der neuen Kunst nicht immer erkannte. Nach einem Jahr wurde A.V. Kotuchin auf persönlichen Wunsch von seiner Pflicht als Vorsitzender enthoben. Zweiter Vorsitzender der „Genossenschaft für Alte Malerei" wurde Aleksandr Ivanovič Zubkov. Schnell kam Palech zu weltweitem Ruhm, und die Situation stabilisierte sich.

Zur Feier des zehnjährigen Bestehens der „Genossenschaft für Alte Malerei" überreichte der Volkskommissar für Aufklärung A.S. Bubnov Diplome den Verdienten Künstlern A.V. Kotuchin, I.P. Vakurov, I,I, Golikov, I.M. Bakanov und I.V. Markičev. Es wurde das „Staatliche Museum für Palecher Kunst" eröffnet. Die Ausbildung wurde an die Gewerkschaftsschule für Kunst und später an die Palecher Kunstschule (PChU) „Maksim Gorkij" verlegt.

So wurde aus dem Palech der Ikonenmalerei das weltberühmte Zentrum der Lackminiatur. In unseren Tagen durchläuft die Palecher Kunst einen neuen Abschnitt ihrer Entwicklung – die Wiedergeburt der Ikonenmalerei.

Ich wünsche den Palecher Künstlern ein ebenso hohes künstlerisches Niveau, seien es Ikonen oder Lackminiaturen, wie es die vorangegangenen Generationen von Ikonenmalern und Künstler ausgezeichnet hat.

I. Safonova, Palech